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Das Bostoner Hauptquartier des Ordens war ein architektonisches und technologisches Wunderwerk.

Trotz des schwerwiegenden Anlasses, der sie herführte, war Claire unwillkürlich beeindruckt von dem ausgedehnten unterirdischen Netzwerk aus Korridoren und Räumen, die sich unter der stattlichen Kalksteinvilla auf Straßenniveau verbargen.

Der Orden lebte in unbestreitbarem Komfort, doch dies war eindeutig ein strategischer Ort. Herzstück und wichtigster Funktionsraum des Hauptquartiers - gewissermaßen das Nervenzentrum des gesamten Komplexes - war das Techniklabor mit seinen Computerkonsolen, der Überwachungsanlage sowie Wandkarten und Plänen wichtiger amerikanischer und ausländischer Städte. Sie hatte eine Kriegskommandozentrale betreten; und auch wenn jeder, dem sie bisher begegnet war, sie als Gast willkommen geheißen hatte, wurde sie sich, als sie am langen Konferenztisch saß, der Tatsache bewusst, dass sie immer noch als Wilhelm Roths Gefährtin galt und damit als das engste Verbindungsglied zu einem Individuum, das mit dem tückischsten Feind des Ordens im Bunde war.

„Sind alle auf dem Weg“, erklärte Gideon, der die restlichen Krieger und ihre Gefährtinnen eben telefonisch zusammengetrommelt hatte, damit sie hörten, was Claire ihnen zu sagen hatte.

Eine der Bewohnerinnen des Hauptquartiers, eine vornehm wirkende junge Frau mit goldbraunem Haar, legte in einer Geste weiblicher Solidarität eine Hand auf Claires. Sie hieß Gabrielle und war die Stammesgefährtin von Lucan, dem Anführer des Ordens. Er hatte die bestürzenden Neuigkeiten als Erster erfahren, die Claire ihm vorhin nach ihrem Traum Spaziergang zu Wilhelm Roth berichtet hatte.

Der große Gen-Eins-Vampir begann auf und ab zu gehen, seine langen Beine trugen ihn dabei in weniger als sechs Schritten durch den weitläufigen Raum, während Rio und Dylan ihm von der anderen Seite des Tischs dabei zusahen.

Claire hatte nicht gewusst, was sie vom Orden zu erwarten hatte, und offen gestanden war ihr ziemlich mulmig gewesen, als sie letzte Nacht im Bostoner Hauptquartier eingetroffen war. Es überraschte sie, dass sie nicht der unzivilisierte Haufen waren, für den die gewöhnlichen Stammesangehörigen sie hielten, sondern stattdessen ein professioneller, eng verbundener Stab von Waffenbrüdern.

Mit ihren Stammesgefährtinnen, die mit ihnen im Hauptquartier zusammenlebten, bildete der Orden eine Gemeinschaft, die gar nicht so anders war als die in den Dunklen Häfen, die Claire kannte. Die Krieger und ihre Gefährtinnen passten offensichtlich aufeinander auf und kümmerten sich umeinander.

Sie waren eine Familie.

Claire empfand deswegen einen kleinen neidischen Stich, mehr aber noch Schuld, als sie wieder daran dachte, dass Wilhelm Roth mit großer Wahrscheinlichkeit etwas mit der Gefahr zu tun hatte, die den Kriegern jetzt drohte. Nach den Schrecken, die sie vor Kurzem in ihrem Traum gesehen hatte, stand sie nun unerschütterlich auf der Seite des Ordens. Sie würde tun, was immer sie konnte, um zu verhindern, dass Roth - oder Dragos - noch mehr Schaden anrichteten.

Dummerweise schien ihre Blutsverbindung zu Roth seit dem heutigen Sonnenuntergang zunehmend schwächer zu werden. Er war unterwegs, sie war sich ganz sicher. Vor einigen Nächten, als sie mit Reichen aus Europa eingetroffen war, war er noch in Boston gewesen, sogar noch gestern Nacht, als sie beide von Newport hergefahren waren. Doch ihre Sinne sagten ihr, dass er jetzt nicht mehr in der Stadt war. Das setzte sie Gideon und den anderen auseinander, die sich vor Beginn ihrer nächtlichen Patrouille im Techniklabor versammelt hatten.

„Haben Sie eine Ahnung, wohin Roth gehen könnte?“ Savannah, Gideons Gefährtin, saß unweit der Computerkonsolen neben ihm. Die Anwesenheit der groß gewachsenen schwarzen Frau im Raum hatte eine beruhigende Wirkung. Die Gelassenheit, die sie ausstrahlte, war ein guter Kontrapunkt zu Gideons hektischer Umtriebigkeit. „Gab es in dem Traum irgendwelche erkennbaren Orientierungspunkte?“

Claire schüttelte den Kopf. „Nichts, worauf ich den Finger legen könnte, leider. Ich wünschte, es gäbe etwas.“

„Glauben Sie, ihm ist bewusst, dass Sie wissen, dass er in Boston war?“, fragte Rio mit stark rollendem spanischem Akzent, die dunklen Brauen über den rauchigen topasfarbenen Augen kritisch gerunzelt.

„Schon möglich, dass er den Verdacht hatte“, meinte Claire. „Und da ich ihn gespürt habe, muss ich annehmen, dass er meine Anwesenheit in der Stadt ebenfalls gespürt hat.“

Gideon nickte. „Das könnte Grund genug für ihn sein, die Stadt zu verlassen, wenn er denkt, man könnte Sie überredet haben, die Information an uns weiterzugeben.“

„Und wenn er Aufträge für Dragos erledigt“, warf Dylan dazwischen, die neben Rio saß, „könnte es sein, dass er sich in die Nähe von Dragos' Schlupfwinkel verzogen hat. Wenn wir herausfinden, wo er sich gerade aufhält, finden wir vielleicht auch Dragos.“

Gideon blickte finster und nachdenklich, dann sah er Claire an. „Gehen wir noch einmal durch, was Sie in Ihrem Traum gesehen haben. Vielleicht hat Roth uns noch ein paar Anhaltspunkte mehr gegeben, die uns helfen, ihn aufzuspüren.“

Zum wiederholten Mal begann Claire, ihren Traumspaziergang von Anfang an zu rekapitulieren.

Als sie bei den Einzelheiten ihrer Auseinandersetzung mit Roth angelangt war, glitt die Tür des Techniklabors auf und Tegan kam mit einigen weiteren Kriegern herein, allesamt von Kopf bis Fuß in schwarzer Kampfmontur. Und hinter ihnen kam Andreas. Er war ähnlich gekleidet und wirkte mindestens ebenso tödlich wie seine schwer bewaffneten Kameraden.

Bei seinem Anblick setzte Claires Herz einen Schlag aus. Direkt nach ihrem Traumspaziergang zu Roth hatte sie daran gedacht, zu ihm zu gehen. Aber so, wie sie in der Kapelle auseinandergegangen waren, war sie nicht sicher, ob sie seine Nähe noch ertragen konnte. Und eine ängstliche Seite von ihr wusste, dass er wütend werden würde, wenn er herausfand, was sie getan hatte. Der Blick, den er ihr zuwarf, als er mit Tegan den Raum betrat, war alles andere als freundlich. Offenbar war er über den Hintergrund dieser spontanen Ordensversammlung schon im Bilde.

„Woran erinnern Sie sich noch, Claire?“, fragte Gideon sie jetzt. „Sie sagten, Sie hätten chemische Gerätschaften und Tische mit Laborausstattung gesehen.“

Sie nickte. „Ja, Mikroskope, Computer, Messbecher und jede Menge Ampullen und Glasflaschen. Alles wirkte supermodern, aber ich könnte nicht sagen, welche Art von Experimenten dort durchgeführt werden.“

„Und hinter dem Labor waren diese verriegelten Zellen“, soufflierte Gideon.

„Ja, eine Zellenflucht mit eingesperrten Frauen. Stammesgefährtinnen. Einige von ihnen schwanger.“

Claire spürte Andreas' Blick auf sich gerichtet, während sie sprach. Die Art und Weise, wie er sie in lastendem Schweigen von der anderen Seite des Raums her anstarrte, brannte förmlich. „Nach Roths Worten habe ich den sicheren Eindruck gewonnen, dass die Stammesgefährtinnen für die Kreatur bestimmt waren.“

„Zu Paarungszwecken“, bemerkte Gideon und warf einen grimmigen Blick in Tegans Richtung. „Eine neue Generation von Stammesvampiren, gezeugt von einem Ältesten.“

Noch einmal durchlebte Claire die Übelkeit, die sie beim Anblick der Frauen und bei Roths Worten überkommen hatte. „Er hat erzählt, er hätte Dragos schon mit Stammesgefährtinnen versorgt, bevor ich ihm begegnet bin, das war vor dreißig Jahren.“

„Um Gottes willen“, fauchte Tegan. „Wie viele Gen Eins kann er im Lauf von ein paar Jahrzehnten wohl geschaffen haben?“

„Wenn er ständigen Nachschub an Stammesgefährtinnen hatte?“, erwiderte Gideon. „Bei der Vorstellung graut mir.“

„Und wer sagt, dass Roth der Einzige war, der ihm welche geliefert hat“, fügte Rio düster hinzu. Er sah zu Dylan. „Wie viele Vermisstenmeldungen von Stammesgefährtinnen hast du aus den Unterlagen der Dunklen Häfen gesammelt, Süße?“

„Zurückreichend bis wann?“, fragte sie sachlich zurück. „In letzter Zeit gehen die Zahlen deutlich in die Höhe, aber wir haben auch Meldungen gefunden, die bis zur letzten Jahrhundertwende zurückreichen.

Und da sind die Frauen, die jedes Jahr aus der menschlichen Bevölkerung verschwinden und die ebenfalls Stammesgefährtinnen sein könnten, noch gar nicht mit eingerechnet.“

Erklärend wandte sie sich an Claire. „Vor einigen Monaten, als Rio und ich uns begegnet sind, habe ich entdeckt, dass meine besondere Gabe darin besteht, dass ich tote Menschen sehe. Also eigentlich tote Stammesgefährtinnen. Ich habe einige in dem Asyl für Straßenkids gesehen, wo meine Mutter gearbeitet hat. Sie haben mich gebeten, ihren gefangenen Schwestern zu helfen - sie zu retten, bevor er sie alle tötet. Sie erzählten mir, dass es weitere gibt, die noch am Leben sind und unterirdisch in Dunkelheit gefangen gehalten werden. Und sie haben mir auch den Namen ihres Entführers genannt: Dragos.“

„Oh mein Gott“, flüsterte Claire bestürzt.

„Sie zu finden ist für mich fast zur Besessenheit geworden. Seither durchforsten wir Vermisstenmeldungen und gehen Hinweisen nach, wo einige dieser Frauen zuletzt gesehen wurden oder hingegangen sein könnten. Vielleicht können wir sie finden. Wenn wir auch nur ein einziges Leben retten können, war es das wert.“

„Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann“, versprach Claire. „Und wenn ich kreuz und quer durch ganz Deutschland und die Staaten reisen muss, um Wilhelm Roth aufzuspüren und ihn dazu zu zwingen, Dragos zu verraten, werde ich das tun.“

Dylan lächelte. „Ich mag Sie schon jetzt.“

„Gar keine schlechte Idee, wissen Sie.“ Gideon sprang von seinem Drehstuhl und lief zu einer der großen Karten von Neuengland hinüber, die an der Wand hingen. Dort zeigte er auf eine rote Stecknadel, die eine Stelle unweit der Grenze von New York und Connecticut markierte. „Wir wissen, wo Dragos zuletzt gesehen wurde. Wir wissen auch, dass er einmal unter einem seiner Decknamen in New York gelebt hat. Wenn wir mit unserer Suche dort beginnen und dann zur Küste vordringen, stoßen wir vielleicht auf etwas.“ Er sah Claire an. „Die Morgendämmerung ist zu nahe, um heute Nacht noch etwas zu unternehmen. Aber wären Sie bereit, uns auf einen Erkundungstrip zu begleiten und Ihre Blutsverbindung einzusetzen, um Roths Aufenthaltsort zu ermitteln?“

„Natürlich.“ Sie tat so, als hörte sie das leise, fast unhörbare Knurren nicht, das aus Andreas' Richtung kam. Er konnte gern versuchen, es ihr auszureden, ihr Entschluss stand fest. Sie war nun ebenfalls Teil dieser Schlacht, ob ihm das passte oder nicht. „Ich kann jederzeit aufbrechen.“

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